Nach drei Jahren ist die Gratifikation nicht mehr freiwillig
Ein Elektromonteur erhielt während achtzehn Jahren jeweils am Jahresende eine Gratifikation in der Höhe eines Monatslohns. Diese wurde in der Lohnabrechnung als «freiwillige Zahlung» bezeichnet. In den letzten fünf Jahren vor der Kündigung bekam der Angestellte nur eine reduzierte Gratifikation. Damit war er nicht einverstanden und verklagte seinen Arbeitgeber auf Bezahlung einer Gratifikation im Umfang eines Monatslohns. Und er erhielt Recht.
Das Zürcher Obergericht hat geurteilt: Der Arbeitgeber habe auch in schlechten Geschäftsjahren eine Gratifikation in der Höhe eines Monatslohns bezahlt. Durch die lange Dauer sei sie daher ein fester Lohnbestandteil geworden (OGer ZH, Urteil RA80004, 6.8.2018).
Mit der Gratifikation liegt allenfalls der Kauf eines Oldtimers drin.
Freiwillig ist meist doch nicht freiwillig
Die Gratifikation ist zwar grundsätzlich freiwillig, wird jedoch durch Abrede oder mehrjährige vorbehaltlose Zahlungen zur Rechtspflicht. Das Bundesgericht erachtet eine ununterbrochene und vorbehaltlose Zahlung während drei Jahren als anspruchsbegründend (BGE 131 III 615 E. 5.2; BGE 129 III 276 E. 2; BGer v. 24.04.2003, 4C.6/2003, E. 2.3). Selbst der regelmässige Hinweis auf die Freiwilligkeit der Leistung kann den Arbeitgeber gemäss Rechtsprechung nicht vor dem Entstehen einer Leistungspflicht schützen. Erfolgte die Gratifikation nämlich während einer langen Periode, so ist der Freiwilligkeitsvorbehalt zur leeren Floskel verkommen.
Die Gratifikation ist in Art. 322d OR geregelt. Der Anspruch auf Gratifikation wird grundsätzlich im Zeitpunkt des Anlasses ihrer Ausrichtung (z. B. Weihnachten oder Abschluss des Geschäftsjahrs) fällig. Die Fälligkeit kann aber durch Vereinbarung auch auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Fehlt eine ausdrückliche Abrede, dann hat der Arbeitnehmer gemäss Art. 322d Abs. 2 OR keinen Anspruch auf eine Pro-Rata-Zahlung, wenn das Arbeitsverhältnis vor Eintritt des Anlasses zur Ausrichtung der Gratifikation endet. Wird das Arbeitsverhältnis im Laufe des Jahres gekündet, erhält der Arbeitnehmer an dessen Ende nur eine Gratifikation pro rata, wenn ein Anspruch darauf vereinbart ist. Ausrichtung oder Höhe der Gratifikation können daher vom (ungekündigten) Bestand des Arbeitsverhältnisses im Zeitpunkt des Anlasses bzw. der Auszahlung abhängig gemacht werden (BGer v. 01.12.2010, 4A_502/2010, E. 2.2). Eine Kündigung ist im Sinne von Art. 336 missbräuchlich, wenn dem Arbeitnehmer auf einen Zeitpunkt unmittelbar vor dem Anlass dieser Sondervergütung (also kurz vor Weihnachten oder Ende des Geschäftsjahrs) gekündigt wird, um den Gratifikationsanspruch zu vereiteln (GSGer/BS, JAR 1984, 122). Befindet sich der Arbeitnehmer bei Ausrichtung der Gratifikation in gekündigter Stellung, so sind Kürzungen erlaubt, da das Element des Ansporns für künftige Leistungen wegfällt. Weil die Gratifikation aber auch eine Belohnung für bereits geleistete Dienste darstellt, würde die vollständige oder übermässige Verweigerung der Auszahlung einen Verstoss gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz darstellen.