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Der Lehrbetriebsverbund: eine Lösung für spezialisierte Ausbildungen
Warum alles allein machen? Es gibt auch die Möglichkeit, für die Ausbildung von Gebäudeinformatiker:innen eine Kooperation einzugehen. Ein tolles Beispiel aus der Praxis.
Die Ausbildung zum/zur Gebäudeinformatiker:in EFZ stellt viele Unternehmen vor Herausforderungen, weil spezialisierte Bereiche wie die Gebäudeautomation oder die Informatik besondere Expertise erfordern. Zwei Firmen, Pentacontrol AG aus Beringen und M. Schlatter AG aus Uesslingen, haben sich deshalb zusammengetan, um den Anforderungen der Lehrlingsbetreuung gerecht zu werden und gleichzeitig einen neuen Weg zu beschreiten. Ein innovatives Modell, das nicht nur den Fachkräftemangel adressiert, sondern auch zeigt, wie durch Kooperation echte Mehrwerte für Unternehmen und den Nachwuchs geschaffen werden können.
Zwei Firmen, ein Lernender
Livio Oswald ist im ersten Lehrjahr zum Gebäudeinformatiker bei M. Schlatter AG und Pentacontrol AG. «Wir haben es ihm freigestellt, bei welcher Firma er angestellt sein möchte, er hat uns als Haupt-Ausbildungsbetrieb gewählt. Die organisatorische Verantwortung liegt deshalb schwerpunktmässig bei uns», sagt David Langhart, Projektleiter und Ausbildungsverantwortlicher bei Pentacontrol. Livio wird bei Pentacontrol in der Konzeptionierung, Konfiguration und Inbetriebnahme von umfassenden Gebäudeautomationslösungen in den Bereichen HLK und MSRL ausgebildet. Bei Schlatter Elektro liegt der Arbeitsschwerpunkt auf der praktischen Erfahrung im Handwerk und den Grundlagen der Elektroinstallation. «Kleinere Smarthome- und Energiemanagement-Projekte wird er in seiner Ausbildung auch bei uns realisieren», ergänzt Andreas Schlatter. Livio erhält durch die Kooperation der beiden Firmen eine sehr umfassende und hochwertige Ausbildung, wie es der Lehrplan verlangt.
Beide Firmen sehen in der Zusammenarbeit eine Win-win-Situation: «Wir profitieren davon, dass wir uns gegenseitig ergänzen und können gemeinsam für Livio eine qualitativ sehr hochwertige Ausbildung gewährleisten», erklärt David Langhart beim Treffen in Uesslingen.
Von der Idee zur Umsetzung
David Langhart hat zwischen 2010 und 2013 die Grundbildung zum Elektroinstallateur EFZ absolviert – bei Schlatter Elektro. Dies ist sicher ein Grund dafür, dass die beiden Firmen so rasch zu einem Lehrverbund zusammengefunden haben. David Langhart erinnert sich gerne an den Tag, an dem die erste Idee dafür entstanden ist: «Andreas hat sich bei uns gemeldet und gefragt, ob wir Interesse hätten, Lehrverbundspartner für einen Gebäudeinformatiker-Lernenden Fachrichtung Gebäudeautomation zu werden. Er hätte zu wenig Auslastung für spezifische GA-Aufgaben, würde aber gerne jemanden in diesem Bereich ausbilden, um den Nachwuchs zu fördern. Für uns war schnell klar, dass dies eine optimale Möglichkeit ist. Denn wir als GA-Firma können einen Gebäudeinformatiker nicht optimal ausbilden, da wir den Bereich Elektro nicht genügend abdecken.» Die Stelle wurde ausgeschrieben, und relativ schnell meldeten sich einige Bewerber:innen. «Livio Oswald absolvierte zwei Schnuppertage bei uns in Beringen (Kanton Schaffhausen) und hat anschliessend noch eine Woche bei Schlatter Elektro in Uesslingen (Kanton Thurgau) geschnuppert», berichtet David Langhart.
Der Ausbildungsalltag: Theorie und Praxis in Harmonie
Die Ausbildung bei Schlatter Elektro und Pentacontrol ist klar aufgeteilt und folgt einem durchdachten System. Blockweise arbeitet Livio Oswald abwechslungsweise in beiden Firmen. «Wenn er bei uns ist, arbeitet er in Gebäudeautomationsprojekten. Er erledigt konzeptionelle Planungsaufgaben, erstellt Schemata, hilft bei der Konfiguration von Systemen oder unterstützt unsere Projektleiter bei der Inbetriebnahme», erklärt David Langhart. «Das praktische Handwerk, also Anschliessen, Installieren, Messen oder die Umsetzung von kleineren Smarthome- und Energiemanagement-Projekten lernt er bei Schlatter Elektro. Diese Kombination stellt sicher, dass er später die umfassenden Anforderungen des Berufs sehr gut erfüllen kann.» Durch diese gezielte Kombination von «Theorie/Automation» und «Praxis/Handwerk» entwickelt Livio Oswald ein breites Spektrum an Fähigkeiten. Er arbeitet sowohl an Projekten, die präzise Planung und Koordination erfordern, als auch an praktischen Installationen, bei denen er elektrotechnische Systeme eigenständig und sicher in Betrieb nimmt. Dabei lernt er den Umgang mit Strom sowie den Einsatz kleiner und grosser Automationssysteme. Dieses Modell fordert den Lernenden: «Eine besondere Herausforderung stellen für ihn auch die unterschiedlichen Arbeitswege zwischen den beiden Firmen und der Berufsschule dar. Er meistert bisher jedoch alles sehr gut», sagt David Langhart.
Die Herausforderungen der Kooperation: Flexibilität und Abstimmung
Natürlich bringt die Kooperation auch für die Firmen einige Herausforderungen mit sich, die eine enge Absprache und Koordination erfordern, wie Andreas Schlatter erklärt: «Der Lernende muss sich zwischen zwei Firmen aufteilen, hat zwei E-Mail-Adressen und unterschiedliche Arbeitszeiten. Die Zeiten erfasst er einfach bei beiden Firmen, zum Glück nutzen wir dasselbe System. Die Vorteile überwiegen aber für uns ganz klar. Wir betrachten Livio als festen Bestandteil beider Teams.» Auch die finanziellen Aspekte sind im Lehrbetriebsverbund geregelt. «Wir orientieren uns am Lohn eines Installateurs. Das Werkzeug erhält Livio von der M. Schlatter AG und den Laptop von uns. Die weiteren Kosten teilen wir uns», so David Langhart. Und Andreas Schlatter ergänzt: «Wichtig ist das gegenseitige Vertrauen. Wenn wir hier kleinlich wären, würde es bestimmt nicht funktionieren. Wenn Livio bei uns arbeitet, erhält Pentacontrol für diese Stunden den HK-Lohn von Livio. Und so fahren beide Firmen sehr gut. Es passt für uns! Und die Bedürfnisse bzw. die optimale Ausbildung von Livio steht stets im Zentrum.» Und beide bestätigen: Trotz der anfänglichen Komplexität erweist sich das Modell für beide Unternehmen als finanziell sehr gut tragbar.
Ein Modell mit Vorbildcharakter
Die Kooperation zwischen Pentacontrol AG und M. Schlatter AG zeigt eindrücklich, wie durch Zusammenarbeit eine qualitativ hochwertige Ausbildung ermöglicht wird. «Wir sind überzeugt, dass dieses Modell auch für andere Unternehmen in der Branche ein Vorbild sein kann, nicht zuletzt, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken», sagt David Langhart. Und Andreas Schlatter ergänzt: «Wir haben aktuell genügend Bewerbungen für dieses Berufsbild. Es ist deshalb wichtig, dass wir für diese interessierten und cleveren Jugendlichen Lehrstellen in der Schweiz schaffen. Denn es wäre schade, wenn wir ihnen keine Lehrstelle in unserer Branche anbieten könnten, denn brauchen können wir sie sehr gut.
Erste Eindrücke
Bei unserem Besuch hatten wir auch die Gelegenheit, kurz mit dem 15-jährigen Livio Oswald zu sprechen. Er freut sich, dass er gleich bei zwei Lehrbetrieben eine spannende Ausbildung absolvieren darf. Er sieht alles sehr positiv und schätzt die Aufgaben und Möglichkeiten, die der Lehrverbund mit sich bringt.
Das vierjährige Lehrverhältnis hat gerade erst begonnen (im August 2024), und es wird noch einige Zeit dauern, bis endgültige Ergebnisse vorliegen. Beide Firmen sind jedoch hoch motiviert und überzeugt, dass dieser innovative Ausbildungsweg neue Chancen und Möglichkeiten eröffnet. Andreas Schlatter betont: «Besonders in spezialisierten Berufen wie der Gebäudeinformatik ist es entscheidend, dass Unternehmen ihre Kräfte bündeln und neue Wege gehen, um den steigenden Anforderungen der modernen Arbeitswelt gerecht zu werden.»
Was ist ein Lehrbetriebsverbund?
In einem Lehrbetriebsverbund schliessen sich zwei oder mehr Unternehmen zusammen, um gemeinsam einen Lernenden auszubilden. Diese Ausbildungsform wird oft genutzt, wenn einzelne Firmen nicht alle Ausbildungsinhalte abdecken können. Der Lehrvertrag wird meist mit einem Leitbetrieb abgeschlossen, der die Verantwortung für die Organisation der Ausbildung übernimmt. Die anderen Betriebe beteiligen sich mit vertraglich geregelten Ausbildungsinhalten. Ein Lehrbetriebsverbund kann besonders kleineren oder auch spezialisierten Firmen eine Möglichkeit bieten, Lernende umfassend und gesamtheitlich auszubilden.
Autor: René Senn, erschienen im Magazin 04 / 2024
Foto: Michael Donadel (mikadoformat.com)