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Personalressourcen bewahren oder Fachkräftemangel
Das wichtigste Gut und ein Erfolgsfaktor für jedes Unternehmen in unserer handwerklich und dienstleistungsorientierten Branche sind zufriedene, gut ausgebildete und langjährige Mitarbeitende. Wie kommt man zu ihnen? Ein Blick in die Praxis zeigt mögliche Wege auf.
Wenn man das Geschehen in der Elektrobranche verfolgt, fällt immer mal wieder das Schlagwort «Fachkräftemangel». Wie akut ist das Problem, und was kann jeder Einzelne dagegen tun? Gibt es Erfolgsrezepte aus der Praxis, die anderen helfen könnten, gute Mitarbeitende zu gewinnen oder im Unternehmen zu behalten? Um diese heissen Fragen zu klären, fragen wir eine erfolgreiche Unternehmerin und einen erfolgreichen Unternehmer aus unserem Verband, wie sie das Problem in ihren Unternehmen angehen und ihm erfolgreich entgegenwirken.
Ein Blick in die Statistik
Laut Statistik von EIT.swiss hat die Anzahl der Lernenden seit 2017 zugenommen. Derzeit sind rund 10’000 Lernende in den drei- bzw. vierjährigen Grundbildungen von EIT.swiss beschäftigt. Wie gut gelingt es den Unternehmen, ihre Lehrstellen zu besetzen?
Jennifer Euringer, Projektleiterin und Mitglied der Geschäftsleitung bei der Elektrorama GmbH im zürcherischen Dietikon, erlebt dies so: «Wir finden zwar jedes Jahr einen Lehrling, der Aufwand dafür wird aber immer grösser. Die Bewerbungen aus den städtischen Gebieten werden immer rarer. Zudem erfüllen viele Interessierte die hohen schulischen Anforderungen nicht oder nur knapp. So wird es immer schwieriger und aufwändiger, sie erfolgreich durch die Lehre zu bringen. Ich biete deshalb unseren Lernenden auf Anfrage jeden Mittwochabend Aufgabenhilfe und Prüfungsvorbereitung an.»
Patric Meyer, Geschäftsführer der EWE Elektro AG im sehr ländlichen Hüttwilen unweit des Bodensees, hat weniger Probleme, neue Lernende zu finden. «Wir haben aktuell sechs Lernende im Betrieb. Neue finden wir in der Regel über private Beziehungen oder geschäftliche Kontakte», berichtet er ziemlich entspannt. Bemühen sich die beiden Unternehmen, auch junge Frauen für die Berufe der Elektrobranche zu begeistern und dem Fachkräftemangel auf diesem Weg entgegenzuwirken? Jennifer Euringer hat zu diesem Thema kürzlich einen EIT.swiss-Roundtable besucht: «Ich finde es schade, dass die Berufsinformationszentren den Mädchen keine Schnupperlehre als Elektroinstallateurin empfehlen. Natürlich würde ich mich über Bewerbungen von Frauen freuen. Die letzte erhielten wir aber 2007.»
Berufseinstieg
Pro Jahr treten rund 2500 Lehrabgänger, 60 Prozent davon Elektroinstallateur/innen EFZ und 32 Prozent Montageelektriker/innen EFZ, als begehrter Nachwuchs ins Erwerbsleben ein. Für den Nachwuchs in der Branche scheint auf den ersten Blick also gesorgt. Wie sieht es in den Betrieben aus, können die Firmen die Lehrabgänger halten? Patric Meyer: «Die guten Lernenden behalten wir natürlich gerne selbst. Sie können auch nach dem Militärdienst bei uns weitermachen. Hat jemand aber noch etwas Mühe, vom Lehrling zum ‘Erwachsenen’ zu werden, empfehle ich ihm, zuerst noch in einem anderen Betrieb Erfahrungen zu sammeln.» Jennifer Euringer empfiehlt dies allen Lehrabgängern: «Ich lege ihnen ans Herz, die Abläufe auch in anderen Betrieben kennen zu lernen und dort die Rolle des Lehrlings abzulegen. Danach können sie sehr gerne wieder zu uns zurückkommen.»
Weiterentwicklung
Das Gespräch mit den beiden Geschäftsführern zeigt, dass die Weiterentwicklung der Arbeitskräfte ein zentraler Punkt ist, um Mitarbeiter im Unternehmen zu behalten. Gemäss der Statistik von EIT.swiss haben im Jahr 2020 rund 1013 und im Jahr 2021 bereits 1472 Personen via EIT.swiss eine höhere Berufsbildung absolviert haben. Firmen, deren Personal sich stetig weiterbildet, haben nicht nur einen Vorteil durch kompetente Mitarbeiter am Puls der Zeit, sondern auch eine gute Möglichkeit, sie im Unternehmen zu behalten.
Patric Meyer würde diese Aussage unterschreiben: «Unser Unternehmen ist so breit aufgestellt, dass jeder Mitarbeiter sich gemäss seinen Interessen auf etwas spezialisieren kann und soll. Wir machen es dabei oft so, dass diejenigen, die einen Kurs besucht haben, das Wissen anschliessend ihren Arbeitskollegen weitergeben. Sehr wichtig bei uns ist aber das Learning by Doing! Ausprobieren, Fehler machen, tüfteln, Erfahrungen sammeln und daraus lernen.»
Auch Jennifer Euringer hat kein festes «Weiterbildungskontingent» pro Mitarbeiter. «Wir nutzen das sehr umfangreiche Weiterbildungsangebot in der Branche. Weiterbildungen betrachten wir als Mittel für die Mitarbeiterbindung. Alle können sagen, was sie interessiert, gemeinsam definieren wir dann die Richtung. Wir organisieren zudem auch interne Kurse zum Beispiel zu NIN, NIV, Asbest und Sicherheit.»
Mitarbeitergewinnung
Stellt sich noch die Frage, was Unternehmen machen können, um neue Mitarbeiter zu gewinnen. «Das ist ein Riesenproblem», sagt Jennifer Euringer. «Wir haben seit über einem Jahr eine Stelle für einen Elektro-Servicemonteur offen, trotz Inseraten, auch auf Social Media, und sogar einem Aufkleber auf dem Auto. Wir erhalten zwar Bewerbungen, aber 98 Prozent erfüllen die Anforderungen nicht. Das beginnt schon beim minimalen Anspruch mit dem Abschluss EFZ. Die guten Mitarbeiter sind regelrecht an ihre Betriebe ‘gefesselt’, das heisst, diese ziehen zum Beispiel sofort beim Lohn mit, wenn wir einen höheren bieten würden. Zum Glück haben wir langjährige Mitarbeiter, vier von acht sind seit über fünf Jahren bei uns.»
In Hüttwilen ist die Situation entspannter: «Wir haben fast nur langjährige Mitarbeiter. Und die neuen, die wir einstellen, kennen wir bereits, es sind Bekannte von Mitarbeitern oder frühere Arbeitskollegen. Mit dieser Mund-zu-Mund-Propaganda sind wir bisher sehr gut gefahren.»
Die Mitarbeiterbindung ist in dieser Situation also extrem wichtig. Welche Möglichkeiten gibt es, um Mitarbeitende möglichst lange und für beide Parteien erfolgreich an das Unternehmen zu binden? «Der Lohn ist hier nicht das entscheidende Kriterium, sondern die Betriebsatmosphäre. Wir tun sehr viel dafür, es gibt pro Jahr bis fünf Betriebsanlässe, auch zusammen mit den Familien, und in besonderen Situationen einen Bonus», sagt Patric Meyer. In Dietikon werden für die Mitarbeiterbindung Benefits wie Geschäftsautos, die auch privat genutzt werden können, Boni nach einem guten Geschäftsjahr – auch für die Lernenden – sowie die Möglichkeit von Teilzeitarbeit genutzt. «Wir sind ein sehr familiärer Betrieb, und so sind auch offene Gespräche über Privates jederzeit möglich», sagt Jennifer Euringer. «Zudem übernehmen die älteren Mitarbeiter eine Art Götti-Funktion für die jüngeren, sie vermitteln unsere Leitbilder und das, was wir unter einem guten Betriebsklima verstehen. Dann ziehen die jüngeren mit und identifizieren sich mit unserem Familienbetrieb.»
Verknüpfen wir die Statistik von EIT.swiss mit den Aussagen der beiden Stimmen aus der Praxis, erkennen wir Folgendes: Wenn es um den Fachkräftemangel, bzw. die Mitarbeitergewinnung geht, sind ein gutes Netzwerk, finanzielle Anreize sowie Weiterbildungsmöglichkeiten sehr wichtig. Die weichen Faktoren wie ein gutes Betriebsklima, eine offene Fehler- und Gesprächskultur sowie ein kollegialer Umgang auf allen Stufen sind jedoch entscheidend.
Die Reportage erschien in Ausgabe 1/2022 des EIT.swiss-Magazins